Sachverhalt:
Kürzlich traf es sich, dass ein Rechtspfleger bei einem deutschen Grundbuchamt einen von uns gestellten Löschungsantrag mit der Begründung abwies, es bedürfe eines Europäischen Nachlasszeugnisses (kurz: ENZ) oder eines deutschen Erbscheins, da der von uns vorgelegte bulgarische Erbschein „nicht gleichwertig“ sei.
Dieses Beispiel aus der Praxis wirft die Frage auf, ob nationale Erbscheine anderer EU-Staaten hinter einem deutschen Erbschein oder einem ENZ grundsätzlich zurücktreten.
Auf die überhebliche Auffassung, ein deutscher Erbschein sei per se höherrangig als der eines anderen Mitgliedsstaats, wird an dieser Stelle nicht weiter eingegangen.
Zwar ist das ENZ als autonomes Instrument des EU-Rechts als solches dafür geschaffen worden, um bei grenzüberschreitenden Erbsachen auf europäischer Ebene Anwendung zu finden. Allerdings folgt bereits aus der seit dem 17.08.2015 geltenden Europäischen Erbrechtsverordnung (Verordnung Nr. 650/2012, kurz: EuErbVO), mit der das ENZ erstmals eingeführt wurde, dass das ENZ nicht an die Stelle der innerstaatlichen Schriftstücke tritt, die in den Mitgliedsstaaten zu ähnlichen Zwecken verwendet werden, vgl. Art. 62 Abs. 3 S. 1 EuErbVO.
Es entspräche weder dem europäischen Gedanken noch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. Art. 5 Abs. 4 EU-Vertrag), der Judikative anderer Mitgliedsstaaten ihre Kompetenz abzusprechen, indem ein Rechtspfleger in Deutschland das ENZ, das in Spanien beispielsweise beim Notar beantragt werden muss, als wertiger oder höherrangiger ansieht, als die mitgliedstaatliche Erbenbescheinigung eines ausländischen Nachlassgerichts.
Dies bestätigend, ist die Verwendung des ENZ auch ausdrücklich nicht verpflichtend, vgl. Art. 62 Abs. 2 EuErbVO.
Für die Gleichwertigkeit von ENZ und nationalem Erbnachweis spricht weiter, dass die EuErbVO gerade nicht einheitliches europäisches Erbrecht begründet, sondern insbesondere die Zuständigkeit zwischen den verschiedenen Gerichten in einem grenzüberschreitenden Erbfall aus Gründen der Effizienz abschließend regelt.
Nun der Clou
Auch wenn nationale Erbscheine anderer EU-Staaten hinter einem ENZ in ihrer Wertigkeit nicht zurücktreten, so gibt es in bestimmten Fällen doch eine Art (praktischen) Anwendungsvorrang des ENZ.
Denn auch wenn die Mitgliedsstaaten andere Erbscheine zugunsten eines ENZ aufgrund des Vorgesagten nicht kategorisch ablehnen (dürfen), so steht es ihnen noch immer frei, inwieweit sie die nationalen Erbscheine anderer EU-Staaten anerkennen bzw. welche Anforderungen sie an die Anerkennung stellen.
In Spanien und in den Niederlanden etwa reicht bereits die Vorlage des ausländischen Erbscheins nebst Apostille für dessen Anerkennung.
In Deutschland werden ausländische Erbscheine zunächst dahingehend überprüft, ob sie die Beweiserleichterung des § 2365 BGB (oder Art. 69 Abs. 2 EuErbVO) aufweisen. Dafür wird überprüft, ob die nach ausländischem Recht aufgeführten Rechtspositionen mit deutschem Recht sachlich übereinstimmen und der Erbschein von der zuständigen Stelle unter Anwendung der jeweiligen Verfahrensvorschriften ausgestellt wurde.
Dass dieses Verfahren unsere hiesigen Rechtspfleger zeitlich und ggf. fachlich überfordert, ist nachvollziehbar. Schließlich sind bei einer solchen Prüfung nicht nur sprachliche Differenzen zu beachten, die unter anderem aus unterschiedlichen Übersetzungsmethoden resultieren. Auch kann das Erbrecht bzw. dessen Wirkungen oftmals nur im Zusammenspiel mit anderen Rechtsgebieten, wie etwa dem Sachenrecht betrachtet werden. Es wäre im Arbeitsalltag schlicht zu viel verlangt, sich stets in ausländische Gesetze einzulesen.
Aus diesem Grund gibt es auch noch immer nationale Vorschriften, wie etwa in Deutschland den § 35 Abs. 1 GBO, die als Nachweis der Erbfolge nur einen deutschen Erbschein (h.M.) oder ein ENZ zulassen. In diesem Zusammenhang sei auf unseren Artikel „Das Europäische Nachlasszeugnis: Die Autorität des Nationalen Registers bei der Eintragung von Immobilien (Rechtssache C 354/21)“ verwiesen.
Abschließend kann daher zusammengefasst werden (…)
Der Rechtspfleger in unserem Fall hat zwar Unrecht im Bezug auf eine vermeintliche Wertehierarchie, muss den bulgarischen Erbschein in diesem Fall aufgrund des § 35 Abs. 1 GBO aber (zu unserem Leidwesen) trotzdem nicht akzeptieren.
Das ENZ hat eine Daseinsberechtigung, ist aber in der Regel noch kostenintensiver und mit mehr Aufwand verbunden als ein nationaler Erbschein.
Die Lösung der Problematik wäre eine Vereinheitlichung der unterschiedlichen Erbrechtsregelungen auf europäischer Ebene. Inwiefern sich eine solche Harmonisierung, die unserer Meinung nach aufgrund des exponentiellen Anstiegs der grenzübergreifenden Fälle längst überfällig ist, in näherer Zukunft tatsächlich ergeben wird, ist nicht absehbar. Immerhin hatte der europäische Gesetzgeber mit der EuErbVO alle Möglichkeiten und hat sich dennoch entschieden, diese nicht zu nutzen und kein einheitliches europäisches Erbrecht zu begründe
Im Schnellvergleich:
ENZ |
Nationaler Erbschein |
Kann von Erben, Vermächtnisnehmern, Testamentsvollstreckern und Nachlassverwaltern beantragt werden | Kann in der Regel nur vom Erbe beantragt werden, Ausnahme: § 792 ZPO |
Antrag in der Regel durch komplexes siebenseitiges Formblatt, welches mehre Angaben erfordert | In der Regel sind nur nötig: Erbschaftsannahmeerklärung, eidesstattliche Versicherung, Sterbeurkunde, Testament oder Nachweis der Erbenstellung |
Aufgrund der Komplexität benötigt die Ausstellung meist länger | Bearbeitung erfolgt in der Regel zeitnaher |
Nach 6 Monaten automatisch ungültig, u.U. eingeschränkte Verlängerung möglich | Unbegrenzt gültig, sofern er nicht eingezogen wird |
Höhere Kosten durch Umfang, erneute Übersetzung (und ggf. Apostille für die Übersetzung) zu befürchten | Einmalige Übersetzung/Apostille reicht aus. Umfang i.d.R. überschaubar (1-2 Seiten) |
Hat eine Beweiserleichterung gem. Art. 69 Abs. 2 EuErbVO und wird (ggf. mit Übersetzung) in allen Mitgliedsstaaten als Erbnachweis anerkannt | Wird ohne Prüfung des jeweiligen Landesrechts ggf. von anderen Mitgliedsstaaten nicht ohne Weiteres anerkannt, vgl. z.B. § 35 Abs. 1 GBO |